Orient Express

( 654.02 - 8ES )

Der Bahnsteig war voller Menschen. Männer in gebügelten Anzügen und Hut, die Frauen in langen Kleidern, großen Sonnenhüten und Handtasche. Manche hatten einen Schirm, der gegen die draußen herrschende Sommersonne schützt, leger in der Armbeuge hängen. Ein Bahnbediensteter in blauer Uniform schob einen Gepäckwagen. Auf ihm waren fein säuberlich Lederkoffer, große Hutschachteln und Baumwollreisetaschen gestapelt  Es waren die Vorkriegsjahre und man wartete am Bahnhof von Ostende gespannt, daß nun endlich der Zug nach Köln bereit gestellt wurde. Hendrik ein  kleine Junge, der sonst mit seinem Bauchladen Zigaretten und Süssigkeiten an die Reisenden verkaufte, war ebenso voller Ungeduld. War es doch sein Traum nur einmal in den Luxuszug zu steigen und einen Blick in den Führerstand werfen zu dürfen. Heute sollte sein Traum in Erfüllung gehen, denn sein Onkel, der bei der belgischen Staatsbahn als Schaffner angestellt war, hatte ihm das zu seinem 10. Geburtstag versprochen. Die Lautsprecherdurchsage forderte die Wartenden dazu auf, vom Bahnsteig wegzutreten und langsam rollte rückwärts der langersehnte Zug in den Kopfbahnhof von Ostende ein. Aus drei Wagen bestand der moderne und komfortable Zug, der erst vor kurzem im Jahr 1936 in Betrieb genommen wurde. Hendrik schob sich geschickt durch die wartenden Menschen hindurch und direkt vor ihm öffnete der Schaffner in einer feschen Bahnuniform die Tür. Nur war es nicht sein Onkel. Hendrik schaute suchend umher, doch nirgendwo konnte er ihn erblicken. "Was ist Junge, willst du hier Wurzeln schlagen? Du hällst den ganzen Betrieb auf." Hendrik fasste sich ein Herz und stieg einfach die steilen Stufen empor, an dem ihm fremden Schaffner vorbei, in den Wagon. Oh was für ein Anblick. Das ganze Großraumabteil war in edlem Holz getäfelt. Die weichen in Fischgrat gepolsterten Vierersitzgruppen strahlten schon beim Anblick Behaglichkeit aus. Die anderen Reisenden schoben Hendrik einfach weiter. Er wollte doch einfach mal einen Blick in den Führerstand werfen. So ging er weiter nach vorne und öffnete die letzte Abteiltür des Triebwagens. Ohrenbetäubener Lärm des 8 Zylinder Dieselaggregats schlug ihm entgegen. Schnell schloss er hinter sich die Türe. Er befand sich in einem kleinem Vorraum. Rechts und links waren zwei Eingänge zum Führerstand. Er schaute hinein. In der Mitte wummerte der riesige Dieselmotor, der offen nur mit einem Geländer umgeben, den Blick auf die Gleise frei gab. Der Lokführer hatte ihn nicht bemerkt. Der schaute derweil, auf der entgegengesetzten Seite, aus dem Fenster auf den Bahnsteig. Hendrik sah zum eigentlichen Führerstand. Er entdeckte allerlei interessante Instrumente, Schalttafeln und eine riesige Kurbel, die wohl die Bremsbetätigung für die Feststellbremse sein musste. Der Führerstand hatte keinen Sitz, denn der Lokführer steuerte den Zug, wie zu dieser Zeit üblich, im Stehen. Kein bequemer Arbeitsplatz, hinzu kam noch der ohrenbetäubende Lärm und gerade wie jetzt im Hochsommer eine unerträgliche Hitze . Hendrik erschrak. Hatte er nicht den Laut einer Trillerpfeife gehört? Der Zugführer nahm seinen Kopf vom Fenster und ging zum Führerstand. Er betätigte die große Kurbel, drückte auf mehrere Knöpfen herum, checkte seine Instrumente und der Dieselmotor wurde lauter. Ein Rucken durchfuhr den Zug und langsam setzte sich das Ungetüm mit seinen 735 PS in Bewegung. "So ein Mist, ich muß doch wieder raus." dachte sich der erschrocken drein blickende Junge. Doch nun war es zu spät. Schnell nahm der Zug Fahrt auf. Der Lärm im Führerstand wurde immer lauter. Hendrik sah noch, wie die Tachonadel auf dem linken Instrumentenbrett auf 13,5 kletterte. "Wow, 135 Stundenkilometer, so schnell bin ich noch nie gefahren." Er hockte sich auf dem Boden neben dem schweren Dieselmotor und hoffte nicht entdeckt zu werden. Dabei sah er die Bahnschwellen, die wie ein Schatten unter ihm vorbei rauschten. Über dem Motor hingen drei überdeminsionale Rohre, die als Warmwasserboiler für die Heizung des Zuges dienten. Die Hitze, der Lärm,  wie bequem es wohl jetzt in einem der schönen Sessel wäre ...

Hersteller: Baume & Marpent

Typ: 654.02 - 8ES

Wagenanzahl: 3

Antrieb: Dieselelektrisch, 8 Zyl.Reihen Dieselmotor

Leistung: 540 KW / 734 PS

Vmax: 135 Km/h

Baujahr: 1936

Betriebsende: 1966


Der Dieselelekrische Triebwagen mit seinen zwei Personenanhängern hat leider nichts mit dem legendären Orient Express zu tun. Gemeinsamkeiten sind wohl nur in dem Konzept zu finden, nämlich einen luxuriösen Zug zu bauen, der vor allem wohlhabende Reisende befördern sollte. Die Namensgebung kam wahrscheinlich auch daher, daß der 654.02 in seinem Stamm-Bahnbetriebswerk der R.S.I. in Ostende gewartet wurde. Bei R.S.I. in Ostenende wurde auch der echte Orient Express aufgearbeitet. Der 654.02 wurde in den Jahren 1936 - 1946 auf der Strecke Ostende - Köln eingesetzt. In den darauf folgenden Jahren befuhr er die Strecke Brüssel-Mons- Tournai und bis zum Betriebsende 1966 die Strecke Charleroi - Couvin. Nachdem das Bahnbetriebswerk R.S.I. in Ostende ca. 2006 geschlossen wurde, rostet der letzte Triebwagen des 654 irgendwo auf einem Abstellgleis bis zu seinem entgültigen Ende vor sich hin.



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* Die Faszination des Vergessenen .... Ja, hier noch mal für unsere Schnelleser: Es heißt nicht des "Vergessens" sondern des "Vergessenen" ;-)